Wo steht die buddhistische Ethik im Westen? Eine Frage, die kaum jemand besser beantworten kann als David R. Loy. Der Amerikaner ist nicht nur Autor des viel gelobten „Money, Sex, War, Karma: Notes for a Buddhist Revolution“ und „A new Buddhist Path“ sondern war einige Jahre Gast-Professor für Ethik, Religion und Gesellschaft an der Xavier University in Cincinnati. Matthias Luckwaldt hat den Zen-Lehrer um eine Einschätzung gebeten


Als Autor und Dharma-Lehrer beleuchten Sie gern die Frage geht, wie wir traditionelle buddhistische Werte in unsere westliche Gesellschaft integrieren können. Was ist ihnen bei diesem Diskurs besonders wichtig?

Zu allererst sollten wir einmal darüber nachdenken, wie wir Karma im 21. Jahrhundert verstehen wollen. Zum einen wirkt Buddhismus nach außen als eine moderne Religion, sofern Sie ihn als Religion bezeichnen möchten. Viele Lehren, zum Beispiel die Nicht-Existenz eines festen Selbst, scheinen absolut zeitgemäß. Anders sieht es mit Karma und Wiedergeburt aus. Diesen Lehren sind für viele Schüler ein gedanklicher Stolperstein.

Die Diskussion, der wir uns demzufolge stellen müssen ist allerdings keine ganz einfache. Manche sehen die Notwendigkeit, den Buddhismus zu modernisieren, gar zu säkularisieren. Dieser Ansatz ist vielleicht etwas zu einfach gedacht. Allerdings sollten wir so manches Dogma in einem modernen Kontext überdenken. Man darf sie nicht einfach akzeptieren, weil man der festen Überzeugung ist, dass der Buddha sie genauso gelehrt hat. Anderseits aber nicht übereilt ablehnen, weil sie nicht in unsere moderne Zeit zu scheinen passen. Das ist ein ziemlich schmaler Grad.

Wo sollten die Karma-Diskussion heute ansetzen?

Manchmal frage ich mich, ob wir die Karma-Lehren des Buddha nicht falsch verstanden haben. Im Pali-Kanon steht zwar viel über Ursache und Wirkung, allerdings bauen nicht alle Aussagen auf einander auf. Im alten Indien glaubte die Menschen bereits an Karma, allerdings eher in einer schematischen Weise. Wenn ich ein Ritual richtig durchführe, dann bekomme ich, was ich mir gewünscht habe. Der Buddha betonte dagegen die Motivation. Er vertrat die Auffassung, dass Karma allein durch unsere Absichten erzeugt wird. Das war eine revolutionäre Theorie.

Was sollten ein westliche Buddhismus-Schüler unbedingt über Karma wissen?

Alles steht und fällt mit der eigenen Motivation. Karma lehrt, wie wir uns wieder auf die richtige Bahn bringen können, indem wir unsere Absichten überdenken. Unser Verhalten in bestimmten Situation hinterfragen, bevor es zur Gewohnheit wird und diese Gewohnheiten unserem Charakter definieren.

Wenn ich von Gier getrieben bin, werden ich nicht nur anders Handel als wenn ich von Großzügigkeit, liebender Güte und Weisheit geleitet werde. Ich werde auch meine Mitmenschen und den Rest der Welt anders wahrnehmen. Wir stehen hier vor einer wichtigen Entscheidung: Es geht nicht darum, wie wir möglichst viele Vorteile aus einer mitmenschlichen Beziehung herausbekommen. Wollen wir Menschen und Situationen manipulieren? Ziehen wir vor offen und transparent auftreten statt vorzugeben jemand anderes zu sein.

Diese Verständnis von Karma schließt nicht unbedingt das Konzept von Wiedergeburt mit ein. Das ist meiner Meinung nach auch nicht entscheidend. Ich weiß nicht, ob ich wiedergeboren werde oder nicht. Irgendwie mache ich mir darum auch keine großen Sorgen. Wenn wir jeden Tag unser bestes tun und an unserer Motivation arbeiten, gehen wir bereits den entscheidend Schritt. Und dann wird es mit der Wiedergeburt schon gut gehen.

Können Buddhismus auch etwas vom traditionellen Ethik-Verständnis des Westens lernen?

Im jüdisch-christlich geprägtem Abendland wurzelt die Ethik vor allem im Kampf „Gut gegen Böse“. Buddhisten sprechen eher von „Verblendung gegen Weisheit“. Das Gute am westlichen Ansatz ist der Sinn für Gerechtigkeit und soziale Fairness. Für die Gläubigen Asiens hatte das nie wirklich Priorität. Dort ging es vor allem um das persönliche Karma, das eigene Leid und der individuelle Weg zur Erleuchtung.

Die Karma-Lehren wurde oft dazu benutzt den Machtmissbrauch vieler Herrscher zu rechtfertigen oder zumindest zu rationalisieren. Wenn jemand als Prinz geboren wurde, muss er wohl gutes Karma aus seinen vergangen Leben haben. Wenn jemand in armen Verhältnissen aufwuchs oder als Frau geboren wurde, muss das Karma dementsprechend schlecht gewesen sein. Ich bin nicht sicher, dass der Buddha das lehrte, aber so haben sich die buddhistischen Gesellschaften nun einmal entwickelt.

Diese veraltete Sichtweise müssen wir uns selbstverständlich nicht zu eigen machen. Der Buddhismus trifft heute nicht nur auf neue Kulturen sondern auch auf eine weltweise Krise. Wir werden aufgefordert die grundlegenden Lehren in einen modern Kontext zu setzen. Leid, dem wir heute überall begegnen, entspringt nicht nur dem individuellen Karma jedes Einzelnen, vielmehr bedingt es sich, wie unsere Gesellschaft funktioniert und strukturiert ist.

Findet dieses Umdenken unter modernen Buddhisten bereits statt?

Es fängt allmählich an. Die einzige Tradition, in der die Diskussion etwas stagniert, ist der Tibetische Buddhismus. Das hat ganz klar mit der Hervorhebung des Tulku-System zu tun. Die Vipassana- und Zen-Schulen haben es in dieser Hinsicht etwas einfacher.

Einmal habe ich einen buddhistischen Lehrer spekulieren hören: „Was für ein schlechtes Karma die Juden in Nazi-Deutschland wohl gehabt haben, um in dieser Zeit an diesem Ort geboren sein müssen.“ Ich finde eine solche Denkweise absolut unakzeptabel. Buddhisten müssen endlich Erwachsen werden und akzeptieren, dass Dukkha mittlerweile ganz andere Dimensionen erreicht hat.

Es gibt immer noch Praktizierende, die sich diesen Problemen lieber entziehen wollen und stattdessen persönlichen Trost suchen und in Gleichmut und Leerheit verweilen möchten. Das ist nicht, was unsere Gesellschaft gerade braucht.

Wenn wir als Buddhisten über Ethik sprechen kommen automatisch die „Drei Geistesgifte“, die fünf Laiengelübde und der „Edle Achtfache Pfad“ ins Spiel. Sind diese Theorien in ihrer ursprünglichen Form überhaupt noch zeitgemäß?

Alle diese Konzepte brauchen natürlich eine größere soziale Dimension. Wenn man heute über die drei Geistesgifte (Gier, Hass und Verblendung) spricht, muss man folgendes bedenken: Unsere derzeitigen Probleme gab es zur Zeit des Buddha noch nicht. Unsere kapitalistischen Verhältnisse sind ein Zeichen von gesellschaftlicher Gier. Wir können einfach nie genug konsumieren, Unternehmen sind nie profitable genug, ihr Marktanteil muss ständig wachsen. So sieht Begierde anno 2016 aus.

In viele Länder hat Aggression mit Hilfe des Militärs eine neue Größenordnung erreicht. Das polarisierende Verhalten vieler Amerikaner und Europäer gegenüber Flüchtlingen ist ein weiteres Beispiel für gesellschaftlich sanktionierten Hass. Und auch Unwissenheit und Verblendung können wir in großem Stil beobachten. Medien sind oft nur noch aktiengeführte Unternehmen, die nicht daran interessiert sind uns zu informieren und zu bilden. Es geht um Quote, Auflage und Werbeerlöse. Die drei Geistesgifte haben mittlerweile also längst eine ganz andere Größenordnung erreicht.

Obwohl diese Sichtweise für manchen Buddhisten ziemlich non-konform erscheinen mag, ist sie meiner Meinung nach tief im Dharma verwurzelt ist. Das ist das spannende. Wir machen uns also nicht einfach nur die westliche Denke zu eigen. Denn: Die Herausforderungen, die vor uns liegen sind nicht zu unterschätzen. Es ist schon schwer genug, mit den Verwirrungen des eigenen Geists zu arbeiten, wenn sich Gleichgesinnte aber zusammenschließen, können wir gemeinsam gegen die gesellschaftliche Eskalation der drei Geistesgifte tätig werden.

Eine wichtige Tugend des „Edlen Achtfachen Pfads“ ist der rechte „Lebenserwerb“. Wie würden Sie den 2016 definieren?

Damals wie heute sollten wir unserem Lebensunterhalt nicht mit Tätigkeiten verdienen, die Leid verursachen. Neben den Berufen, die schon in den Ursprungstexten genannt werden, kommen aktuell noch ganz andere Wirtschaftszweige hinzu, etwa die Werbeindustrie. Werbung ist in den meisten Fällen unethisch, weil sie einen Konsum befeuert, der in vielerlei Hinsicht bereits zur neuen Religion erhoben wurde. Einer falschen Religion, die uns weiß machen will, dass Glück kaufbar ist. Jobs, die Konsumwahn befördern oder die Umwelt zerstören, sind gute Beispiel für einen falschen Lebenserwerb. Aber auch als Konsumenten stehen wir in der Pflicht endlich ein bescheideneres Leben zu führen und den ganzen Versuchungen zu widerstehen.

In Ihrem Buch „A New Buddhist Path: Enlightenment, Evolution, and Ethics in the Modern World“ haben Sie dem „neuen Boddhisattva“ ein ganzes Kapitel gewidmet. Was ist anders an diesem Boddhisattva?

Vielleicht sollte man „neu“ in Anführungszeichen setzen. Einen so großen Unterschied gibt es nämlich gar nicht. Ursprünglich arbeiten Boddhisattvas unermüdlich mit ihrem eigenen Geist, um in der Welt tätig werden zu können. Laut der asiatischen Lesart bestanden ihre Bemühungen vor allem darin, anderen Lebewesen bei ihrer individuellen Befreiung zu unterstützen. Die „neuen Boddhissatvas“ gehen noch einen Schritt weiter, statt andere „nur“ zum eigenen Erwachen zu führen, setzen sie sich gemeinsam dafür ein gesellschaftliches Dukkha zu überwinden und die Welt zu heilen.

Wie können Buddhisten ihre eigenen Gemeinschaften stärken, wenn es um Ethik geht?

Zu allererst müssen wir lernen, wieder in Gemeinschaft zu denken. Gerade unter den amerikanischen Buddhisten vermisse ich das manchmal. Wir haben hier viele Dharma-Zentren, unzählige Lehrer mit noch mehr unterschiedlichen Ansätzen. Den Vipassana- und Zen-Schülern geht es oft nur um das individuelle Erwachen. Das war nicht die Idee des Buddha, auch wenn es sich über Jahrtausende so entwickelt hat.

Einige Traditionen legen wiederum sehr viel Wert auf den Sangha, die Gemeinschaft der Nonnen und Mönche. Um ein Gefühl von Zusammengehörigkeit zu erzeugen, sollten wir nicht all zu viele Unterschiede zwischen Ordinierten und Laien machen. Es ist wichtig, dass wir uns gegenseitig helfen und stützen, denn es liegen schwere Zeiten vor uns, sozial wie ökologisch. In einer Krise kommt nicht darauf an, welche Lebensmittel du im Keller gehordet hast, sondern dass du Teil einer liebenden Gemeinschaft bist, wo sich Menschen gegenseitig wertschätzen und auf das Wohl des anderen bedacht sind.

Wenn wir also eine echte buddhistische Gemeinschaft schaffen, die sich neben der individuellen Praxis für das größere gesellschaftliche Wohl einsetzt, können wir ein gutes Beispiel für den Rest der Welt werden.

Dieses Interview erschien erstmals 2016 in Tibet und Buddhismus.