Mit ihrem neuen Buch „Die Weisheit eines offenen Herzens“ tourte Venerable Thubten Chodron im April durch Europa. In Hamburg sprach Matthias Luckwaldt mit der Äbtissin der Sravasti Abbey über ihre Lehrer, Konfliktsituationen – und Facebook


Sie wurden 1950 in Los Angeles in eine jüdisch geprägte Familie geboren. Wie kamen Sie zum Dharma?

Über Umwege. Wie viele Hippie-Touristen der 68er-Generation, bin ich damals von den USA in die Türkei und dann auf dem Landweg nach Nepal gereist. Dort kam ich das allererste Mal mit dem Buddhismus in Berührung. Obwohl ich damals noch kein wirkliches Interesse daran hatte, oder gar Vertrauen, muss das bei mir dennoch einen bleibenden Eindruck hinterlassen haben. Ich fuhr zurück nach Los Angeles, arbeitete weiter als Lehrerin an einer öffentlichen Schule. Dann sah ich einen Flyer in einem Buchladen: Lama Thubten Yeshe und Tsenshab Serkong Rinpoche gaben außerhalb von L.A. ein Retreat.

War diese erste intensivere Begegnung mit dem Dharma eine Liebe auf den ersten Blick?

Nicht wirklich. Für mich war es eher ein Experiment. Zu Beginn des Retreats meinten beide Lehrer, wir müssten nichts von dem glauben, was sie uns erzählten. Das ließ mir eine gewisse Freiheit. Erst als ich tiefer eingestiegen bin, praktiziert und über die Lehren nachgedacht habe, leuchtete mir alles mehr und mehr ein.

Es blieb nicht beim Schnupperkurs in L.A., Sie sind gleich noch einmal nach Nepal aufgebrochen, um im Kloster Kopan mit diesen Lehrern zu studieren. Woher kam der dringende Wunsch, dem Dharma zu folgen?

Ich habe nach einem tieferen Sinn im Leben gesucht. Mir ging es zwar sehr gut, ich hatte keine wirklichen Probleme, und doch beschlich mich das komische Gefühl, es müsste noch mehr im Leben geben. Mehr als zu heiraten, Kinder zu bekommen, eine Karriere aufzubauen und schönen Dingen nachzujagen. Um es kurz zu sagen: Ich wollte nicht das Leben meiner Eltern leben.

Was war daran so falsch?

Nichts, aber es hat mich einfach nicht gereizt. Meine Eltern waren die Kinder von Einwanderern, sie wuchsen während der Great Depression auf und die Familie war dementsprechend arm. Das Ziel ihres ganzen Lebens war es, den „Amerikanischen Traum“ zu erreichen, um einmal besser für ihre eigenen Kinder sorgen zu können. Dadurch bin ich bereits im Wohlstand aufgewachsen. Noch mehr Statusgewinn und Vergnügen wären sicher nett gewesen, nur hatte das für mich keine längerfristige Bedeutung. Ich teilte also nicht den Ansporn meiner Eltern. Sie hatten diesen Weg bereits für mich beschritten, warum sollte ich ihn noch einmal gehen?

Als Lehrerin an öffentlichen Schulen leisteten Sie bereits einen wertvollen Beitrag für die Gesellschaft. War Ihnen das nicht genug?

Ganz und gar nicht, ich wollte am Ende meines Lebens etwas mehr vorzeigen können. Sicher, da waren die ganzen Klassenfotos und vielleicht das gute Gefühl, den Kindern etwas Nützliches beigebracht zu haben. Mir war das aber zu wenig. Geboren werden, aufwachsen, sterben: Das konnte doch nicht alles sein.
Viele Menschen sehnen sich nach Geborgenheit, dem Gefühl liebevoller Nähe zu einer anderen Person. Bei der Wahl eines spirituellen Lehrers spielt das ebenfalls eine bedeutende Rolle und birgt Gefahren, wenn man an „den Falschen“ gerät.

Wie würden Sie in diesem Zusammenhang die Beziehungen zu Ihren Lehrern Lama Yeshe, Lama Zopa Rinpoche und Serkong Rinpoche beschreiben?

In unser Beziehung stand der Dharma eindeutig im Vordergrund. Ich habe sie stets gleichermaßen als Lehrer und Leitfiguren geschätzt. Und ich gebe zu, anfangs hätte ich mir tatsächlich etwas mehr Aufmerksamkeit von ihnen gewünscht. Die Gemeinschaft bestand aus so vielen Schülern … Wir waren wie eine große Familie und ich war das Kind, das sich nach ganz besonderer Zuneigung sehnte. Ich wollte ein guter Mensch sein und suchte nach entsprechender Bestätigung. Schließlich habe ich erkannt, dass ich mit der verkehrten Motivation an die Sache heranging. Meine Lehrer haben da jedenfalls keine Sekunde mitgespielt [lacht].

Wie hilfreich waren Ihre Lehrer für Ihren weiteren Weg?

Als ich Mitte der Siebziger auf den Dharma stieß, gab es nur sehr wenige buddhistische Bücher in englischer Sprache. Wir hatten Lobsang Rampa und seine vielen ausgedachten Geschichten, Alexandra David-Néel und Lama Govinda. Das wars! Selbst in der Klosterbibliothek von Kopan gab es nur „The Wish-Fulfilling Golden Sun“ von Lama Zopa Rinpoche und zwei weitere Bände. Meine Lehrer waren also die Quelle für alles und ich habe sie sehr dafür geschätzt. Heute ist das ganz anders. Weil es jetzt so viele Dharma-Bücher gibt, sehen leider manche Schüler in ihren spirituellen Lehrern nicht mehr den selben Wert wie ich beispielsweise damals.

Welche Erfahrung mit Ihren Lehrern ist Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben?

Lama Yeshe bat mich einmal, einen Meditationskurs in Kopan anzuleiten. Dort war es üblich, dass die Lamas Belehrungen gaben und wir „Westler“ uns um die Meditation kümmerten sowie Fragen beantworteten. Ich fühlte mich völlig überrumpelt, denn ich hatte den Dharma noch nicht sehr lange studiert. Also ging ich zu ihm und sagte: „Ich kann das nicht. Was weiß ich schon? Der Job ist zu wichtig und ich bin nicht qualifiziert“. Lama warf mir diesen gewissen Blick zu und sagt: „Du bist egoistisch!“ Puh, das war mal eine Lektion!

Bevor es zu dem von Ihnen befürchteten Meditationskurs kam, schickte Lama Yeshe Sie jedoch für zwei Jahre ins „Lama Tzong Khapa“-Institut in der Nähe von Pisa. Was haben Sie dort gelernt?

Einiges. Bis dato wusste ich zum Beispiel gar nicht, dass ich ein so großes Problem mit Wut und Ärger hatte. Hätte mir das jemand erzählt, ich hätte kein Wort geglaubt. Als ich aber auf die ersten italienischen „Machos“ stieß, änderte sich das schlagartig. Der Direktor wurde manchmal ärgerlich mit mir, weil ich die Schüler zur Dharma-Praxis ermunterte, er ihnen aber lieber andere Aufgaben zuteilen wollte. Wir waren doch aber zum Studium da, und nicht um zu arbeiten. Ich musste also gleichzeitig für meine Überzeugungen eintreten – und einiges über mich und meine Fehler lernen.

Die Entscheidung, buddhistische Nonne zu werden, erfordert großen Mut. Vor allem im Westen, wo es nur wenige Klöster und gesicherte Unterstützung gibt. Diese Entscheidung über einen langen Zeitraum zu leben, beweist zusätzliches Durchhaltevermögen. Was waren Ihre größten Hindernisse in den letzten 30 Jahren?

Die Novizen-Gelübde zu nehmen, war nicht sonderlich schwer. Ein Lama gab sie problemlos jedem, der vorbereitet war. Die volle Ordination zu erhalten, erwies sich hingegen als weit komplizierter. Die Herausforderungen der ersten Jahre danach waren aber ganz andere: Ich lebte in Indien und hatte weder Geld noch ein Rückflugticket in die USA. Meine Familie gab mir kein Geld, also blieb mir nichts anderes übrig, als mir meine allerletzten 50 Dollar strikt einzuteilen. Die extreme Sparsamkeit, war hart – und eine sehr wertvolle Erfahrung. Ich lernte nicht nur das wenige was ich besaß mehr zu schätzen, sondern auch die Liebenswürdigkeit meiner Mitmenschen, die mir mit Geld oder Sachspenden aushalfen. Das ist bis heute so: Ich arbeite nicht für meinen Lebensunterhalt und bleibe nur durch die Großzügigkeit anderer am Leben. Das vergesse ich nie.

Was half Ihnen, in scheinbar ausweglosen Situationen nicht aufzugeben?

Mir war immer klar, dass nur mein Geist mir Schwierigkeiten bereitete, nicht mein Leben als Nonne. Meine Ordination war nicht die Ursache meiner Probleme, sondern ein Teil von deren Lösung. Ich litt einzig und allein an meinen inneren Verstrickungen.

Vielen Menschen erscheint ein Leben im Zölibat als Inbegriff der Unfreiheit. Buddha dagegen lehrte die Gelübde als Hilfen, um Freiheit zu gewinnen. Empfinden Sie sich als frei?

Ich habe von Anfang an sehr genau darüber nachgedacht, was die Gelübde für mein Leben bedeuten würden, was ich tun darf und was nicht. Als ich tief in mein Herz schaute, wollte ich diese Dinge interessanterweise auch gar nicht mehr tun. Inzwischen hatte ich nämlich erkannt, dass ich durch sie nur negatives Karma ansammeln und unweigerlich zu einer ungünstigen Wiedergeburt beitragen würde. Ich könnte dann niemandem mehr helfen, mich eingeschlossen. Die Gelübde sind also eher ein Schutz, der mich vor der Versuchung bewahrt, unheilbare Dinge zu tun.

Sie waren vor Ihrer Ordination verheiratet. Wie ist Ihr Mann mit der neuen Situation umgegangen?

Unmittelbar nachdem ich auf den Dharma traf, wusste ich, dass ich Nonne werden wollte. Es dauerte knapp zwei Jahre bis ich die Novizen-Gelübde nahm. Mir ging das fast zu langsam, aber Lama Yeshe bat mich etwas zu warten, was sehr weise war. Mein Mann war extrem verständnisvoll. Ich erklärte ihm, dass unsere Ehe allein aus Anhaftung funktionierte und wir damit schlechtes Karma anhäufen würden. In so einer emotionalen Verbindung wie der Ehe fahren die Gefühle gern mal Achterbahn. Da bleiben Ärger und Streit nie aus. Da er selbst Buddhist wurde und Vertrauen in die Lehren hatte, wusste er, was ich meinte und wie wichtig mir dieser Entschluss war. Und obwohl es hart für ihn war, hat er nie versucht mir meine Entscheidung aus- oder Schuldgefühle einzureden. Dafür bin ich ihm sehr dankbar. Wir sind Freunde geblieben, bis heute.

Welchen Rat würden Sie Menschen geben, die überlegen, sich ordinieren zu lassen? Wieviel Zeit soll man sich nehmen?

Es ist keine Sache von Zeit, sondern von der felsenfesten Überzeugung, diesen Schritt wagen zu wollen. Man sollte die Entscheidung nicht aus einer Laune heraus fällen, weil es cool ist, eine Robe zu tragen oder man in den Lehrer vernarrt ist. Mache dir deiner Motivation bewusst und sei dir klar darüber, worauf du dich einlässt. Besonders im Westen ist das Leben als buddhistische Nonne oder Mönch kein Zuckerschlecken. Die Tibeter kümmern sich schwerpunktmäßig um ihre eigenen Klöster. Natürlich versorgen sie dich mit Dharma-Materialien, gehen leider aber immer noch davon aus, dass die Westler sich schon irgendwie allein durchschlagen. Man sollte sich also gründlich überlegen, wie man seinen Lebensunterhalt bestreiten und vor allem wo man Unterkunft finden kann. Ohne monastische Gemeinschaft stellt sich die Frage, wie man die Ordensregeln, den Vinaya, erlernen soll. Was das betrifft, bringt dich selbst ein Leben in einem Dharma-Zentrum nicht wirklich weiter. Die Gelübde zu nehmen ist nur der erste Schritt, sich darin zu üben ein anderer.

In der Sravasti Abbey kann man all das sehr gut. Hier bekommt jeder die nötige Unterstützung und niemand muss rausgehen, um durch Lohnarbeit seine Existenz zu sichern. Wer echtes Interesse hat, kann uns gern besuchen und eine Zeit lang erfahren, wie wir leben und ob sie oder er selbst so ein Leben führen möchte. Viele sind nämlich so begeistert Nonne oder Mönch zu werden, denken aber nicht nach, was sie am Tag nach ihrer Ordination tun werden. Das ist wirklich sehr wichtig.

Sie lehren weltweit, als Äbtissin von Sravasti Abbey verlangt zudem der Zukauf neuer Grundstücke und der stetig wachsende Sangha Ihre volle Aufmerksamkeit. Haben Sie sich Ihr Dasein als Nonne so vorgestellt, mit einer Leitungsfunktion, oder hätten Sie heute lieber wieder mehr Zeit für Ihre eigene Entwicklung und Meditation?

Anfangs ging ich zu meinen Lehrern und bat sie, häufiger Retreats machen zu dürfen, damit ich öfter meditieren und geistige Erfahrungen sammeln kann. Sie sagten: „Gute Idee, du kannst einmal pro Jahr für einen Monat in Klausur gehen – und da wirst du Belehrungen geben!“ Für viele Jahre habe ich mich dagegen gesträubt, doch irgendwann schließlich dämmerte es mir, wie wunderbar es ist, als Lehrerin aktiv sein zu dürfen. Wie viel man selbst dabei lernt, wie gut man anderen helfen und auch selbst Verdienste ansammeln kann. Ab diesem Punkt fand ich mehr und mehr in meine Rolle.

In allen Gemeinschaften gibt es trotz der besten Absichten immer wieder Konflikte. Was waren für Sie in diesem Zusammenhang die schwierigsten Erfahrungen?

Heute bin ich viel besser auf Konfliktsituationen vorbereitet, damals in Italien war ich es nicht. Ich war zu wenig in meine geistige Praxis vertieft, hatte noch nicht gelernt, wie man Menschen zuhört und gute Gespräche kultiviert. Dennoch gibt es auch heute Situationen, mit denen ich nur schwer umgehen kann. Etwa wenn mich jemand um Rat bittet, ich demjenigen einen gebe und darauf gleich ein „Ja, aber …“ kommt. Der direkte Wechsel in den Verteidigungsmodus. Dann frage ich mich manchmal, warum diese Menschen mich überhaupt aufgesucht haben, wenn sie bereits wussten, was sie tun wollen. Und wenn ich dann sehe, wie sie tatsächlich eine schlechte Entscheidung fällen, ich sie aber einfach nicht erreichen kann, dann bedrückt mich das sehr!

Haben Sie eine Empfehlung für den Umgang mit Konflikten in buddhistischen Zentren oder Gruppen?

Mentales Training ist sehr effektiv, um seinen eigenen Geist zu zähmen. In Sravasti Abbey nutzen wir zudem sehr erfolgreich die Gewaltfreie Kommunikation nach Marshall Rosenberg. Hierbei lernt man, seine eigenen Gefühle und Bedürfnisse besser zu identifizieren und sie auszudrücken, ohne andere dabei zu bedrohen.

Was schätzen Sie in Ihrem Leben als den größten Reichtum?

Das waren die Momente, in denen ich das Gefühl hatte „Oh, jetzt habe ich den Dharma wirklich begriffen“.

Hatten Sie schon eine richtige Offenbarung?

Nein, so unglaublich spektakuläre Momente hatte ich nicht. [lacht] Ich kann Ihnen aber die Texte verraten, bei denen mir ein Licht aufging. Das waren Lama Tsongkhapas „Lamrim Chenmo“ („Die Große Darlegung der Stufen des Pfades“) und sein „Ocean of Reasoning“, was ein Kommentar zu Nagarjunas „Mulamadhyamakakarika“ („The Fundamental Wisdom of the Middle Way“) ist. Und natürlich die „Kostbare Girlande“, die ich hier in Semkye Ling gerade unterrichte. Das müssen aber nicht zwingend die richtigen Texte für jeden sein, da muss jeder seine eigenen Erfahrungen machen.

In Ihrem neuen Buch „Die Weisheit eines offenen Herzens“ erzählen Sie von einer Diskussionsrunde mit S.H. dem Dalai Lama und westlichen Schülern zum Thema „Selbstliebe“. Dabei kam heraus, dass fast alle Beteiligten unter dem Druck der westlichen Leistungs- und Vergleichsgesellschaft litten. Das war allerdings 1990, lange vor Facebook und Instagram. Welche Tipps geben Sie vor allem jungen Menschen, damit diese sich nicht permanent mit Selbstzweifeln quälen?

Ich frage mich oft, wie sich Teenager heute fühlen müssen. Ich selbst habe als Jugendliche schon mächtig gelitten, auch ganz ohne Social Media. Dazu sollte man zwei Dinge wissen: Erstens versucht jeder, im Netz ein bestimmtes Bild von sich zu formen. Wenn ich mir das Facebook-Profil eines Freundes anschaue, sehe ich nicht die wirkliche Person, sondern nur das, was ich sehen soll. Wenn ich mich selbst betrachte, entdecke ich dagegen die unterschiedlichsten Facetten. Vergleiche ich mich also mit einem dieser perfekten Abbilder auf Facebook oder Instagram, sind Selbstzweifel vorprogrammiert. Zweitens gibt es gar keinen Grund, sich überhaupt mit anderen zu vergleichen. Das ist oberflächlich. Wir alle haben unsere ganz individuellen, guten Qualitäten und Probleme. Statt das Leben anderer zu kopieren, sollte man seine eigenen Talente erkennen und der Gemeinschaft beisteuern.

Was möchten Sie persönlich noch in diesem Leben erreichen, was ist Ihr Herzenswunsch?

Ich möchte einfach nur gutes Karma ansammeln, das gibt mir wirkliche Erfüllung. Denn eines habe ich gelernt: Schau nicht auf das, was du erreicht hast, sondern achte darauf, gute Ursachen zu schaffen. Dann werden die Ergebnisse sich einstellen, wenn die Zeit dafür reif ist. Wer sich jedoch von vornherein auf die gewünschten Resultate konzentriert, der wird unglücklich und frustriert sein und erschafft so ein Hindernis. Der Weg ist das Ziel.

Foto: Sravasti Abbey

Dieses Interview erschien erstmals 2016 in Tibet und Buddhismus.